Thema der Woche

07. Dezember 2005

Europa auf dem Weg zum Überwachungsstaat?

Am 2. Dezember 2005 haben sich die Justizminister und -ministerinnen der Europäischen Union (EU) auf einen "Kompromissvorschlag" zur Speicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten geeinigt: In allen EU-Staaten müssten demnach bei sämtlichen Formen der Telekommunikation – vom Telefonieren über Handy-Nutzung bis zu E-Mail-Versand und Internet-Surfen – die so genannten Verkehrsdaten mindestens sechs Monate lang gespeichert werden. Den nationalen Parlamenten soll insofern bei ihrer gesetzlichen Regelung kein Spielraum eingeräumt werden. Diese Initiative wird von der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, deren Vorsitz derzeit beim [externer Link] Unabhängigen Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD) liegt, als unverhältnismäßiger und damit verfassungswidriger Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis und in den Datenschutz abgelehnt.

ULD-Leiter Dr. Thilo Weichert kommentiert: "Es ist erschreckend, welche grundrechtliche Verrohung bei den europäischen Justizministern festzustellen ist: Es wird als Sieg der Bürgerrechte verkauft, dass bei der auf Vorrat vorgenommenen Telekommunikationsüberwachung keine Inhalte und keine Bewegungsprofile erstellt werden sollen. Unseren Verfassungsministern ist wohl nicht klar, dass unsere freiheitlichen Verfassungen verbieten, die Menschen anlasslos staatlich bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu überwachen und zu kontrollieren. Der Beschluss verstößt genau gegen dieses Verbot: Wenn über Monate hinweg minutiös nachvollzogen werden kann, wer wo im Internet gesurft hat, wer wann mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail kommuniziert hat, wer wann welche Online-Dienste in Anspruch genommen hat, dann wird die Schwelle von der freiheitlichen Informationsgesellschaft zum digitalen Überwachungsstaat überschritten."

Was hier als Kompromiss verkauft wird, sei das Nachgeben gegenüber maßlosen Überwachungsforderungen von Sicherheitsbehörden, folgert Weichert: Vorschläge von Datenschützern, die übermäßig teure grundrechtszerstörende Vorratsdatenspeicherung zu vermeiden und dennoch den Strafverfolgungsbedürfnissen zu entsprechen, seien nicht ernsthaft erörtert worden. Dabei gebe es eine Alternative: Mit einem kurzfristigen Einfrieren von Verbindungsdaten, dem so genannten "Quick Freeze", wäre eine gezielte Gewährleistung von Sicherheit in Telekommunikationsnetzen möglich, ohne dass die gesamte Bevölkerung wie eine potenzielle Verbrecherbande behandelt würde.

Weichert kommt zum Schluss: "Die Justizminister sind dabei, die 'Büchse der Pandora' zu öffnen. Diese würde die Menschen, die überwachungsfrei leben wollen, dazu zwingen Telefon und Internet nicht mehr zu nutzen. Wir erwarten, dass das Europaparlament, der Bundestag und die Verfassungsgerichte in Europa dafür sorgen, dass diese Büchse verschlossen bleibt."

Die zugehörige Entschließung der 70. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder (2005-10-27/28, Lübeck) ist im Internet auf [externer Link] www.datenschutzzentrum.de/material/themen/presse/20051028-dsbk-vorratsdatenspeicherung.htm zu finden. Eine [externer Link] Meldungs-Historie zur "Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten in der Telekommunikation" hat der Heise-Verlag unlängst online gestellt.