Materialien zum BSI-Kongress

Prof. Dr. Dres. h.c. Winfried Hassemer
Johann Wolfgang Goethe-Universität
Richter des Bundesverfassungsgerichts

[Foto: Winfried Hassemer]

Informationssicherheit als Staatsaufgabe?

Vortrag auf dem 7. Deutschen Sicherheitskongress des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik Stadthalle Bonn-Bad Godesberg 14. Mai 2001

I. Befunde

Staat, Sicherheit und Information, meine drei Pfeiler, sind miteinander nicht starr, aber doch fest verbunden und stehen zueinander in engem Kontakt. Das ist nicht weiter verwunderlich in Zeiten, da sowohl die Information als auch die Sicherheit in das Zentrum der öffentlichen und der privaten Wahrnehmung gerückt sind; sollte, wie bei uns, in diesen Zeiten auch der Staat noch überlebt haben, so darf man getrost erwarten, dass die Entwicklungen von Sicherheit und Information – man kann diese Entwicklungen schon Karrieren nennen – nicht an ihm vorbei gelaufen sind, dass sie ihn vielmehr ebenfalls ergriffen und verändert haben.

So ist es auch, und man kann es vorläufig kurz zusammenfassen: Wir leben in einer Informationsgesellschaft, der Sicherheit zu einem der wichtigsten Güter geworden ist. Beides hat den Staat und unser Verhältnis zu ihm tiefgreifend verändert. Davon soll jetzt die Rede sein.

1. Information

Wären wir hier unter Strafrechtsprofessoren oder Hühnerzüchtern statt unter Theoretikern und Praktikern der Informationsgesellschaft, so wäre das Gähnen, das ein Redner verbreitet, der sich über die Informationsgesellschaft auslässt, vermutlich dasselbe. dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, gehört heute nämlich zum gesicherten Bestand jeglicher Sonntagsrede wie früher beispielsweise die Warnung vor den Gefahren der Technik für die abendländischen Werte: Hier kann ein Redner, solange er unter den Fittichen des Zeitgeists verbleibt, absolut nichts mehr falsch machen, hier ist er auf der sicheren Seite, und auch kritische Zuhörer kann er mit ein paar Floskeln bis zum Gähnen ruhig stellen. Das Problem ist nur, dass die auch dann gähnen, wenn er etwas ganz anderes vorhat als sie ruhig zu stellen.

a. Informationsgesellschaft

Das ist nun genau meine Lage. Denn was allgemein verbreitet ist, ist ja nicht schon deshalb auch gleich falsch, und dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, ist, auch wenn alle dran glauben und es immer wieder erzählen, gleichwohl wahr, und vor allem hat es Konsequenzen. Und um diese Konsequenzen geht es mir. Deshalb muss ich, so prekär das hier auch sein mag, kurz skizzieren, was für mich heute "Informationsgesellschaft" meint und welche Züge sie hat; darauf nämlich baut sich dann eine Analyse der Rollen auf, die Sicherheit und Staat heute spielen.

Immerhin kann ich einer Mehrheit unter Ihnen versprechen, das Phänomen "Information" aus einem Blickwinkel zu präsentieren, der Ihnen nicht geläufig ist. Es ist der Blick des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts. Ich werde dann später, wenn Sie mit diesem Blick vertraut sind, noch einmal schnell aus dieser Ecke schauen, wenn es um die Analysen von Sicherheit und von Staat geht.

Ohne Zweifel steht die Kategorie "Information" jedenfalls in der westlichen Gesellschaft des Jahres 2001 im Zentrum unserer Welt, und deshalb nennen wir uns mit Fug eine Informationsgesellschaft. Nicht so, als ob es in diesem Zentrum nichts anderes gäbe – man denke nur an die Gentechnologie oder an die Durchdringung unserer Lebensgrundlagen mit ökonomischen Parametern. Aber doch so, dass "Information" die Ordnung der Eisenfeilspäne, nach denen wir uns ausrichten, mit definiert. Sie bestimmt das Äußere und das Innere, das Objektive wie das Subjektive, also nicht nur das Leben, sondern auch unsere Wahr nehmung vom Leben.

Es geht bei dem, was durch Information definiert wird, beispielweise um das Bruttosozialprodukt, um seine Kriterien und Faktoren und um die Orte, an denen es erwirtschaftet wird, es geht um die Typen von Berufen und Beschäftigungen, die an den Rand wandern oder in die Mitte, es geht um den Stellenwert des Produkts "Information" auf den Skalen des individuellen, des ökonomischen, des gesellschaftlichen und des staatlichen Lebens.

Das Gut "Information" hat diese Räume und ihre Strukturen durcheinander gebracht und neu geordnet, und es hat sie, nebenbei gesagt, auch geweitet; denn Informationen sind leicht transportabel. Es geht aber auch um die Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben wahrnehmen, was sie für wichtig und bedeutsam halten, wovon sie träumen, was ihnen als plausibel oder als verführerisch erscheint, kurz: In der Informationsgesellschaft durchwirkt die Kategorie "Information" nicht nur – was nahe liegt – die objektiven Strukturen und Inhalte des öffentlichen und privaten Lebens; sie konstituiert auch die Akteure und deren Wahrnehmung der Welt. Sie ist ein roter Faden unseres Alltags, von der herrschenden Ökonomie über Kriterien der lebensweltlichen Rationalität bis hin zu dem, was wir als Kunst gelten lassen.

b. Belege

Sucht man dafür nach Belegen, so findet man Bestätigungen dieser Diagnose in einer recht unwichtigen, ja abgelegenen, dafür aber umso verlässlicheren Ecke; im Strafrecht nämlich.

Das Strafrecht läuft der Informationsgesellschaft natürlich, wie allen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen, hinterher, und das aus gutem Grund; es wäre ja schrecklich, wenn diese Entwicklungen ausgerechnet vom Strafrecht angestoßen oder gar verantwortet würden. Es läuft also hinterher. Es läuft aber wacker.

aa. Blut und Information

Das Strafrecht ist vermutlich dasjenige Rechtsgebiet – und aus diesem Grund ist es hier ja auch ein verlässlicher Indikator -, das von der Kategorie "Information" weiter entfernt ist als alle anderen. Selbst das doch ebenfalls erdnahe Familienrecht lässt Konstellationen von Information als seine normalen Probleme zu, etwa hinsichtlich von Vermögensbeständen der Ehegatten oder von Abstammungsverhältnissen. Das Strafrecht hat es herkömmlich mit handfesten Dingen zu tun, mit Blut, Knochen und Geld, mit Entführen und Festhalten, Berauben und Vergewaltigen. Das Rechtsgut der Ehre, dem flüchtigen Gegenstand "Information" noch am nächsten verwandt, macht den Kriminalisten eben deshalb traditionell Probleme. Das strafrechtliche Denken, am Handhaften hängend, hat die Beleidigung einmal erschöpfend beschreiben wollen als das Auftreffen von Schallwellen auf das Trommelfell – nicht nur zu unserer Belustigung, sondern auch zu unserer Belehrung: wie fern diesem Denken alles Vergeistigte, Entmaterialisierte, wie fern ihm das Phänomen Information ist und wie nah alles, was man anfassen kann.

Das hat sich, mit dem Heraufkommen der Informationsgesellschaft, dramatisch geändert, und das strafrechtliche Denken hat diese Entwicklung noch lange nicht verkraftet. Daran kann man studieren, bis in welche Winkel sich bei uns die Kategorie Information ausgebreitet hat.

bb. Strafbarkeit

Im materiellen Strafrecht, wo es im wesentlichen um die Beschreibung des strafbaren Verhaltens und um die Strafdrohungen geht, kann man die Reformen der vergangenen Jahre getrost als die Karriere derjenigen Deliktstypen kennzeichnen, die es mit Information zu tun haben. Gewiss, es gab auch gesetzliche Veränderungen im Recht der Abtreibung, der Körperverletzung oder der Vergewaltigung; das aber, was man mit Grund eine Modernisierung des Strafrechts nennen kann im Sinne seiner Anpassung an den sozialen Wandel, der gerade im historischen Moment sich ereignet, der das Strafrecht umgibt und den es mit beeinflussen will, das bezieht sich auf flüchtige, auf nichthandhafte, eben auf "moderne" Gegenstände wie die Kategorie der Information.

Das sind natürlich und trivialerweise zuerst einmal die Tatbestände, die den Schutz der Datenverarbeitung im weitesten Sinne gewährleisten wollen; das sind aber auch und vor allem die Verbote von informativem Zusammenschluss, von kommunikativer Verbrechensvorbereitung, von informationeller Abstimmung und krimineller Einwirkung auf kognitive Vorstellungen des Opfers – sämtlich Verhaltensweisen, welche die Information als instrumentum sceleris, als Verbrechensmittel einsetzen: Subventions- und Kapitalanlagebetrug, Korruption, organisierte Vorbereitung und Durchführung von Rechtsverletzungen, Steuerhinterziehung usw., gewerbsmäßige Kriminalität und Bandenkriminalität. Diese Art Rechtsverletzung riecht nicht mehr nach dem klassischen Arme-Leute-Strafrecht früherer Zeiten, sondern eher nach After Shave und Benzin. Sie lebt und stirbt mit dem Gelingen und Misslingen informationellen Austauschs.

cc. Strafverfahren

Im formellen Strafrecht, wo es im wesentlichen um das Verfahren zur Aufklärung und Verhandlung von Straftaten geht, ist das Bild ähnlich. Hier haben sich die Reformen der vergangenen Jahre auf ein ganz kleines Feld des gesamten Gegenstandsbereichs konzentriert, sie haben nur in eine ganz bestimmte Richtung gewirkt, und sie haben fast ausschließlich die Kategorie "Information" bedient.

Diese Reformen beschränkten sich auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und verschärften dort die gesetzlichen Instrumente der Wahrheitserforschung. Sie ergänzten die klassischen Eingriffsmittel wie Durchsuchung, Beschlagnahme oder Untersuchungshaft, die – ähnlich den herkömmlichen Tatbeständen des materiellen Strafrechts – eher handhaft konstruiert waren, durch Erkenntnisinstrumente, die in einer dem materiellen Strafrecht vergleichbaren Weise "modern" aussehen und "modern" wirken. Es sind sämtlich Mittel, die auf Informationsgewinnung setzen: Rasterfahndung, langfristige polizeiliche Observation, Lausch- und Spähangriffe, Erweiterung der Fernmeldeüberwachung, Nutzung geheimdienstlicher Erkenntnisse für das Strafverfahren. Diese Mittel unterscheiden sich von den überkommenen Methoden der Wahrheitserforschung im Ermittlungsverfahren durch zwei fundamentale Kennzeichen, die sich sämtlich dem Umstand verdanken, dass es nunmehr zentral um Informationsgewinnung geht: Sie sind auf Heimlichkeit angewiesen, weil sie ansonsten schon technisch nicht funktionieren, und sie erstrecken sich nicht nur auf den Verdächtigen, sondern typischerweise auf eine ganze Anzahl von Menschen, die mit der aufzuklärenden Tat eher zufällig und vorübergehend verbunden sind.

Es lässt sich, jedenfalls mit einer gewissen eingriffstheoretischen Sensibilität, leicht sehen, dass diese Modernisierung des Strafrechts nicht nur ein rechtsstaatlicher Glücksfall ist; sie ist auch, ja vor allem eine Verlängerung und Verschärfung des Schwerts, mit dem das Strafrecht in bürgerlichen Freiheitsräumen operiert. Darum aber soll es hier nicht gehen. Hier geht es um den handgreiflichen Beleg für den Siegeszug der Kategorie "Information" auch in Bereichen, die herkömmlich – und übrigens auch aus guten Gründen – mit dieser Kategorie wenig zu tun hatten. Und dieser Beleg liegt offen zu Tage.

2. Sicherheit

Man hat uns eine "Risikogesellschaft" genannt, und diese Kennzeichnung, vorgetragen von Sozialwissenschaftlern, Philosophen und auch Kriminalisten, teilt das Schicksal des Labels "Informationsgesellschaft": Sie ist mittlerweile fester Bestandteil zeitgeistiger Sonntagsreden, was aber nichts daran ändert, dass sie stimmt. Und von der Risikogesellschaft geht es geradewegs zu den Gefilden, in denen das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit wächst und gedeiht, um sodann in Theorie und Praxis des Verfassungsrechts reiche Früchte zu tragen. Auch das möchte ich – in umgekehrter Reihenfolge – kurz skizzieren und dabei wiederum ein paar Belege aus den Entwicklungen meines Fachs, des Strafrechts, vorzeigen.

a. Grundrecht auf Sicherheit

Schon 1983 hat ein Staats- und Verfassungsrechtler, der auch über einen scharfen Blick für politische und gesellschaftliche Entwicklungstendenzen verfügt – Josef Isensee -, ein "Grundrecht auf Sicherheit" formuliert, das in mancherlei Hinsicht quer steht zu unseren verfassungsrechtlichen Traditionen und zu der Art und Weise, wie wir gewohnt waren, Grundrechte zu verstehen und dem Staat theoretisch wie praktisch gegenüberzutreten. Isensee hat die Entwicklung zu einem Recht auf Sicherheit nicht "erfunden" oder gar "initiiert" – wie denn auch, wenn sie, was ich behaupte, alle modernen westlichen Gesellschaften gleichermaßen kennzeichnet -; er hat sie aber theoretisch auf den Punkt gebracht und sie vielleicht hie und da auch praktisch befördert.

Ein Grundrecht auf Sicherheit passt mit unseren verfassungsrechtlichen Herkömmlichkeiten augenscheinlich schlecht zusammen. Die Grundrechte galten der liberalen Tradition, die Verfassung zu verstehen, als Abwehrrechte, und zwar gegen den Leviathan, den übermächtigen Staat, der die Menschen zugleich nährte und bedrohte. Der Staat und niemand sonst war die Gefahr, die es in den Texten zu beschwören und im Alltag zu bändigen galt, er war es, der die Freiheitsräume der Bürgerinnen und Bürger gefährdete und beschränkte durch Machtlust, Ordnungsfanatismus, Neugierde oder blinden Unterwerfungseifer, ihm gegenüber galt es, auf der Hut zu sein und im Notfall – beispielsweise mithilfe der Verfassung, der Gerichte, aber auch der Presse – die Grenzen legitimen Eingriffs zu bewachen, zu markieren und dann auch durchzusetzen. Die Rechte auf Unverletzlichkeit der Wohnung, auf Freiheit der Meinungsäußerung oder auf Schutz des Eigentums – klassische Grundrechte – waren in der Tradition der politischen Philosophie der Aufklärung, der wir uns verbunden wussten, Vorkehrungen gegen einen gefräßigen, zu Übergriffen neigenden Staat.

Vor diesem Hintergrund wird sichtbar, dass ein Grundrecht auf Sicherheit einer anderen Welt angehört. Es hat gleichsam die Seiten gewechselt, hat sich ins Feld des Feindes geschlagen, wendet sich hilfesuchend ausgerechnet an denjenigen, dessen Übergriffe es – als Grundrecht – einstmals abzuwehren hatte. Denn wie ist die Sicherheit herzustellen, auf die das Grundrecht auf Sicherheit sich richtet? Doch nur durch Einschränkungen anderer – eben der klassischen – Grundrechte. Denn die haben ja den Bürgern – und natürlich auch den frechen, den verbrechensgeneigten – Freiheit verbürgt, wollten den Staat an die Kette legen. Ein Grundrecht auf Sicherheit hingegen lässt sich nur ins Werk setzen, wenn der Staat exakt das Gegenteil dessen tut, was das überkommene Verständnis der Grundrechte wollte, wenn er nämlich die Freiheitsrechte beschränkt: die allgemeine Handlungsfreiheit durch Verhaltensgebote und -verbote, das Eigentum durch Abschöpfung verdächtiger Gewinne, den Schutz der Wohnung durch Lausch- und Spähangriffe.

Sicherheit ist ein Widerlager von Freiheit. Und die Freiheit ist es, welche die Grundrechte als Abwehrrechte auf ihrer Agenda hatten. Ein Grundrecht auf Sicherheit dreht den Spieß um.

b. Sicherheitsbedürfnisse

Jenseits der Verfassungsdogmatik ist die Karriere eines Grundrechts auf Sicherheit vor allem wichtig als Symbol, als Kennzeichen unserer Zeit. An ihr können wir vordergründig verstehen, was sich hintergründig vollzieht. Und was sich vollzieht, ist offenkundig. Es vollzieht sich eine dramatische Erosion des Konzepts und der Praxis von Privatheit, wir beobachten einen wahren Siegeszug der Prävention, und als eine partielle Erklärung dieser Entwicklungen bietet sich das Theorem der "Risikogesellschaft" an. Davon ist jetzt nacheinander die Rede.

aa. Privatheit

Es ist keineswegs ein aggressiver, hinterhältiger oder bösartiger Staat, der die Bürger – gleichsam wie mit einer Art Gehirnwäsche oder mit den groben Methoden, die sich George Orwell noch ausgedacht hatte – unter Druck setzt, einlullt oder geistig enteignet, so dass sie nicht mehr verstünden, was um sie herum vorgeht; es ist keineswegs ein Staat, der in den geheiligten, privaten Bezirk der Büger eindringt, sich einschleicht oder auch nur einkauft. Nein, es ist der freie Wille dieser Bürger, auch auf Kosten der Freiheit auf Sicherheit zu setzen und den überwachenden Staat dazu einzuladen. Der Staat ist daran ziemlich unschuldig.

In meinen Augen sind wir derzeit dabei, das klassische Konzept von Privatheit zu verlieren. Wer George Orwells "1984" gelesen hat oder sich noch an die Diskussionen und Demonstrationen im Kontext des verfassungsgerichtlichen Urteils zum Volkszählungsgesetz 1983 erinnert, kann sich im Jahre 2001 nur verwundert die Augen reiben. Es hat sich an Stelle der Angst vor Entdeckung und Veröffentlichung intimer Daten nunmehr eine rechte Lust darauf verbreitet. Was früher einmal von Jedermann mit allen Kräften unter Verschluss gehalten wurde, wird jetzt auf den Markt getragen.

Es gibt eine wachsende Zahl von Leuten, die für irgendeinen Auftritt in den Medien bereit sind, gerade die Dinge auszubreiten, an die man früher am liebsten noch nicht einmal ganz allein für sich im stillen Kämmerlein gedacht hätte, und es gibt eine wachsende Zahl von Leuten, die scharf darauf sind, bei solchen Abstürzen zuzuschauen. Es war sicherlich nicht die pure Naivität (ich hoffe es jedenfalls), ausgerechnet die Sendung, die es auf diese Schaulust angelegt hat, "Big Brother" zu nennen und damit locker anzuspielen auf den einstmals bedrohlichen Ausforscher, Verwirrer und Überwinder. Jetzt macht er nur noch Spaß und keine Angst mehr, jetzt hat er bunte Kleider an (oder gar keine). (Ich finde freilich, beiseite gesprochen, jetzt macht er noch mehr Angst als früher, nur aus anderen Gründen.)

Was die Menschen früher umgetrieben, was sie geängstigt und tief beschäftigt hat, leuchtet ihnen heute nicht einmal mehr ein. Was das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1983 mit düsterer Feierlichkeit als Menetekel an die Wand geschrieben hat: dass nämlich in einer normlosen Gesellschaft die "Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß", dürfte den meisten Leuten heute schnuppe sein. Jedenfalls verhalten sie sich so, dass möglichst viele Unbekannte möglichst viel über sie zu wissen kriegen.

Ich kritisiere das hier nicht; es könnte ja der Beginn einer neuen Lebensform von Privatheit sein (obwohl zum Hegen dieser Hoffnung schon eine Menge Blauäugigkeit gehört). Ich möchte aber doch festhalten, dass die staatlichen und gesellschaftlichen Halteseile, die einmal zur Rettung der Privatheit entwickelt worden waren, keinen Gegenstand mehr haben oder jedenfalls einen ganz anderen als zur Zeit ihrer Erfindung. Das gilt für so unterschiedliche Dinge wie die Empfindung von Scham oder die Institution des Datenschutzes. Soll es diese Halteseile auch morgen noch geben, dann müssen sie umgestellt werden auf eine Bürgerschaft, der die Wonnen des Dabeiseins über alles gehen. Ob eine solche Umstellung möglich ist, ist durchaus offen. Vielleicht haben sich die Halteseile mit der Erosion der Privatheit aber auch für's erste erledigt.

bb. Prävention

Gewissermaßen unter der Hand haben sich die Eisenfeilspäne unserer Weltbetrachtung umorientiert vom Pol der Freiheit zum Pol der Sicherheit. Das führt zu Umstellungen auch in anderen Bereichen unseres privaten und öffentlichen Lebens. Ein Begriff, der in diesem Prozess Karriere gemacht hat, heißt Prävention. Prävention ist nicht nur im öffentlichen Eingriffsrecht das Paradigma der Stunde. Sie ist der entschlossene Versuch, Gefahren unter allen Umständen und mit allen Mitteln zuvorzukommen, und sie kennzeichnet weite Bereiche des modernen Alltags. Ich führe als Beleg für den Siegeszug der Prävention die Wandlungen des Strafrechts ins Feld, die sich auf Veränderungen unseres Empfindens gegenüber den aktuellen Bedrohungen unseres Lebens stützen können. Diesen Bedrohungen suchen wir mit fast allen Mitteln zu wehren.

Von der "klassischen" Aufgabe des Strafrechts, auf verschuldetes Unrecht angemessen, gerecht zu antworten, ist nur noch in eher abgelegenen und überholten Traktaten die Rede. Diese klassische Aufgabe hieß einmal "Vergeltung" - ein Wort, das heute eher den Geruch von etwas abgestandener und jedenfalls sinnloser Grausamkeit verbreitet. Wozu soll das Vergelten denn gut sein, fragt man sich und andere; viel wichtiger ist es doch, rechtzeitig zu verhindern, dass etwas entsteht, was dann am Ende vergolten werden müsste? Das Vergelten setzte eine Gesellschaft voraus, die ihrer selbst sicher wahr, die angesichts des Verbrechens nicht in Panik geriet und deren Gelassenheit so stabil war, dass sie die kriminelle Rechtsgutsverletzung abwarten, sie aufklären und wägen und erst danach aus der Distanz auf sie antworten konnte.

Das hat sich fundamental geändert. Niemandem leuchtet mehr ein, das Kind erst in den Brunnen fallen zu lassen, bevor man mit helfenden Eingriffen reagiert. Man muss, davon sind wir heute überzeugt, den Problemen zuvorkommen und sie beseitigen, bevor sie entstehen. Das ist Prävention: entschlossene Reaktion auf die Erwartung künftiger Schäden.

Am Siegeszug der Prävention ist, wenn man sich bloß diese Oberfläche anschaut, noch nichts Schlechtes – im Gegenteil: Sie ist eine rationale Reaktion auf eine bedrohliche Umwelt. Wer sich von Gefahren und Risiken umstellt sieht, tut gut daran, rechtzeitig dafür zu sorgen, dass das Befürchtete nicht Wirklichkeit wird. Kennzeichnend für das Maß unserer Sicherheitsbedürfnisse wird das Paradigma der Prävention erst, wenn man es in einen weiteren Kontext stellt und zugleich Einzelheiten seiner Verwirklichung betrachtet. Ich zitiere aus einigen Pressemeldungen im zeitlichen Zusammenhang von nur wenigen Tagen, die sowohl Einzelheiten vor Augen führen als auch den Kontext aufscheinen lassen.

"Deutschland ist Weltmeister im Abhören", titelt der Tagesspiegel Anfang März dieses Jahres und teilt an Einzelheiten mit, dass es E-Mails ohne Datenspuren nicht gibt, dass in den Industriestaaten jeder Erwachsene in durchschnittlich 200 Computerdatenbanken registriert ist, dass von 1988 auf 1999 die Zahl der gerichtlich angeordneten Telefonüberwachungen bei uns von 9 800 auf 12 600 angestiegen ist oder dass der Bundesnachrichtendienst täglich an die 100 000 Telekommunikationen mit seinen "Staubsaugern" auf verdächtige Begriffe hin untersucht. Die Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern warnen vor der "gläsernen Internet-Gemeinde" und verweisen auf Pläne der Innenminister, die digitalen Signaturen der Internet-Nutzer aufzuzeichnen und zu speichern. Die Bundes justizministerin will rechtsradikale Botschaften im Internet eindämmen und eine Verschärfung des Presserechts hinsichtlich der Verjährungsfristen prüfen. Der Ermittlungsrichter des BGH urteilt, zur Telefonüberwachung beim Handy gehörten auch Informationen über die Position des Überwachten, wenn der gar nicht telefoniert; damit öffnet er die Tür für die Fabrikation von Bewegungsprofilen. Rechts- und Innenpolitiker nehmen die Vergewaltigung und Ermordung eines Mädchens zum Anlass der Forderung, allen Männern in Deutschland einen DNA-Test abzuverlangen, dessen Ergebnisse in der Gendatenbank des Bundeskriminalamts abgespeichert werden; nur so könne man solche Verbrechen verhindern. Wir können uns nicht mehr sicher sein, dass auch bei uns irgendwann im Interesse der allgemeinen Prävention so genannte "Pädophilen-Listen" veröffentlicht werden, wie das schon in Großbritannien, Belgien und Italien geschehen ist.

Auch diesmal kritisiere ich nicht in der Sache; dazu liegen die berichteten Einzelheiten – von Verjährungsfristen bis zu einer allgemeinen Gendatei ohne Tatverdacht – eingriffspolitisch ja auch viel zu weit auseinander, und man müsste deutlich differenzieren. Nein, es geht mir vielmehr um eine allgemeine Tendenz, die mächtig, einhellig und unzweideutig ist; diese Tendenz und nichts sonst hält meine Beispiele als roter Faden zusammen. Es ist die Tendenz, bei der Risikoprävention jegliches Maß aufzugeben und dabei der obrigkeitlichen Kontrolle vorbehaltlos zu trauen.

Wer sich heute gegen Prävention ausspricht, hat nicht nur politisch schlechte Karten, sondern macht sich verdächtig – bestenfalls als "Gutmensch", schlimmstenfalls als Beschützer gefährlicher Täter. Das Zweckbindungsprinzip des Datenschutzes verblasst angesichts des Informationshungers von Polizei, Verfassungsschutz und Ermittlungsbehörden vor der verbreiteten Überzeugung, man solle doch nicht vor mühsam erlangten Informationen lebensfremd die Augen verschließen, wenn diese Informationen dazu geeignet seien, schwere Schäden abzuwenden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe ist derzeit als Grundsatz zwar nicht angefochten; auf der Waage, die er bereithält, wiegen in Zeiten der Risikoangst aber die Gewichte der Bedrohungen unserer Sicherheit immer schwerer gegenüber den normativen Empfehlungen von Zurückhaltung.

cc. Risiko

Es ist die Kategorie der "Risikogesellschaft", mit der sich diese hier kurz nachgezeichnete Entwicklung hin zu einem Paradigma der Sicherheit jedenfalls an der Oberfläche einsichtig machen lässt. Wie die Verbrechensfurcht, die beileibe kein Spiegel der realen Bedrohung durch Verbrechen ist, sondern sich nach ihren eigenen Gesetzen entwickelt, so ist auch die Risikoangst, deren große Schwester, keineswegs das Ergebnis riskanten Lebens, sondern eher dessen Gegenteil. Ihre Nachdrücklichkeit und ihr Expansionsdrang werden erst verständlich, wenn man zur Kenntnis nimmt, was die Sozialwissenschaftler in der modernen Welt unter "Risiko" verstehen, nämlich Szenerien, die über eine bösartige Mischung schlechter Verheißungen verfügen. Moderne Risiken bestreichen gerade diejenigen Felder, auf denen sich die Modernisierung unseres Lebens vollzieht, Felder, die expandieren und zu einem guten Teil noch unbekannt sind: Globalisierung von Wirtschaft und Kultur, Umwelt, Drogen, Währung, Migration und Integration, Datenverarbeitung, Gewalt unter Jugendlichen. Auf allen diesen Feldern kann sich ein Zusammenbruch der Systeme ereignen, der zu unvorhergesehenen Folgen führt, und dieser Zusammenbruch ist voraussichtlich nicht zu verhindern.

Angesichts diese Art Bedrohung lässt sich eine rationale, gelassene, besonnene Reaktion der Betroffenen nicht erwarten. Die erwartet auch niemand. Erwartet wird vielmehr eine allgemeine Verunsicherung, eine Angst und Orientierungsunsicherheit und die Erfahrung von Überforderung. Überforderung resultiert nicht zuletzt aus den angestrengten Versuchen, Risiken unter Kontrolle zu bringen und wirksame Schutzmechanismen zu entwickeln.

Hier geht es nicht darum, im einzelnen nachzufragen oder gar nachzuprüfen, ob das auch alles und bis in alle Verästelungen so stimmt; es geht mir jetzt auch nicht um die Frage, welche Auswege aus Risikoangst und Verunsicherung es gibt. Es reicht aus, dass diese Beschreibungen unsere Lebenserfahrung dieser Jahre wiedergeben und dass die von der Theorie der Risikogesellschaft vorausgesagten Folgen von Risikoangst im wesentlichen mit dem übereinstimmen, was uns tatsächlich umgibt und was mit Händen greifbar ist. Stimmen die Beschreibungen im großen und ganzen, so ist mein Ziel erreicht: Es wird verständlich, warum Sicherheit für uns so wichtig geworden ist, warum Prävention im Zentrum unseres Planens steht und warum Privatheit uns wie ein Konzept von vorgestern vorkommt.

3. Staat

Diese Veränderungen gehen nicht ab ohne Konsequenzen für den Staat und vor allem für unser Verhältnis zu ihm. Ich habe sie eher beiläufig hie und da schon angedeutet und brauche diese Andeutungen jetzt nur noch einzusammeln und auf den Punkt zu bringen:

Innerhalb der Ellipse von Freiheit und Sicherheit hat der Staat sich in den letzten Jahren mit leisen, aber großen Schritten bewegt. Er ist vom Brennpunkt der Freiheit in Richtung Brennpunkt der Sicherheit gewandert. Er hat das Kleid des Leviathan, des Bedrohers bürgerlicher Freiheit, abgelegt und das Kleid des Partners übergezogen; er zeigt derzeit, wenn man so will und wenn man bei den überkommenen Symbolen bleiben möchte, eher seine Potenz als Ernährer und Helfer und eher nicht seine Potenz als Kontrolleur und Kerkermeister.

Das Bild der Ellipse will zweierlei zum Ausdruck bringen: nicht nur, dass Freiheit und Sicherheit unauflöslich und zu allen Zeiten in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen – wie immer die Schwerpunkte historisch gerade verteilt sein mögen. Es will auch darauf hinweisen, dass radikale Zuweisungen (als ginge es ausschließlich um Freiheit oder ausschließlich um Sicherheit) übertrieben oder naiv wären. Es geht immer nur um Schwerpunkte, um Tendenzen – die freilich können, wie wir gesehen haben, deutlich und stabil sein.

Dieser Wandel wirft eine Reihe von Problemen auf wie etwa das der bürgerlichen Aufmerksamkeit gegenüber einem Staat, der trotz – oder vielleicht sogar wegen – seiner partnerschaftlichen Angebote in einem Bündnis für Sicherheit seinen Hunger nach Informationen und seine Bedürfnisse nach Kontrolle keineswegs eingebüßt hat – auch insofern wieder: eher im Gegenteil. Auch – oder gerade – der Sicherheit suchende und verbürgende Staat bleibt bedrohlich für die Grund- und Freiheitsrechte. Denn er kann – bei aller informationstechnologischer Fortschrittlichkeit und beim Einsatz moderner, weicher Methoden der Verhaltensregulierung – Sicherheit am Ende nicht garantieren ohne Eingriffe in Freiheitsbereiche der Bürger. Und davon werden wir ja auch täglich Zeugen.

Aber auch um diese Probleme soll es hier im einzelnen nicht gehen. Es reicht hin, gezeigt zu haben, dass der Staat in der Phase der Risikogesellschaft und der Sicherheitsbedürfnisse in einem neuen Gewand auftritt, dass er sich den Bürgern – auch in deren Wahrnehmung – hilfreich nähert und dass er im Kontext von Information und Sicherheit eine Schlüsselrolle besetzt. Vor diesem Hintergrund kann es keinen Zweifel geben, dass Informationssicherheit eine Staatsaufgabe ist und dass sie es nie mit tieferen Wurzeln und mit größerem Nachdruck war als heute.

II. Konsequenzen

Nun können wir die Ernte einfahren.

Es gibt drei Überlegungen, die sich vor dem Hintergrund, den ich hier gezeichnet habe, aufdrängen. Sie werfen die Frage auf, was eigentlich genau gemeint ist, wenn man über "Sicherheit als Staatsaufgabe" nachdenkt, und was daraus praktisch und politisch folgt; sie führen in Einzelheiten der Informationstechnologie und streiten dort dafür, den Staat nachdrücklich an der Herstellung informationeller Sicherheit zu beteiligen; sie rufen aber auch in Erinnerung, dass sowohl zu unserer Rechtskultur als auch zu den Hoffnungen, mit denen viele Menschen die Informationstechnologie entwickelt und begleitet haben, so etwas wie Staatsferne gehört.

1. Sicherheit durch den Staat

"Sicherheit als Staatsaufgabe" – wenn ich mein Thema einmal so verallgemeinern und zusammenfassen darf – meint vordergründig zweifellos die Erwartung, dass der Staat Sicher-heit herstellt, dass er sie garantiert und durchsetzt. Das ist eine traditionsreiche und bis heute unerschütterte Erwartung der Menschen, die vergesellschaftet miteinander leben und auskommen müssen (oder dürfen).

Die Moderne hat diese Erwartung noch einmal auf den Begriff gebracht. Sie hat das Recht mit der Entstehung der Staaten beginnen lassen und den Staat eingesetzt und legitimiert als den Garanten gleichmäßiger, gerechter und stabiler Ordnung. Sie hat den Staat mit einem Gewaltmonopol ausgestattet und dieses mit Gewaltverboten gegenüber mächtigen Privaten befestigt. Im Staat bündeln sich – bei allen Tendenzen zu Deregulierung, Privatisierung oder Regionalisierung – bis heute die Hoffnungen auf die Umhegung des guten Lebens: Nicht für die Herstellung von Autonomie der Menschen, nicht für die Entwicklung ihrer Moral oder auch für die Lebendigkeit ihres Alltags ist der Staat zuständig (obwohl manche Politiker das gerne hätten und damit hin und wieder spielen), sondern für etwas ganz anderes.

Der Staat ist zuständig für die Ränder dieses Lebens: für die Möglichkeiten, menschenwürdig zu wohnen und sich zu ernähren, für die Sicherheit vor Verletzungen, für die Chance, die eigenen berechtigten Interessen gegenüber anderen Interessen zu bewahren. dass das alles immer bedroht ist und nie bis zur Sättigung gewährleistet sein kann, ist wohlbekannt, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es dieses Äußerliche ist, das auf der Agenda des Staates steht. Wenn es ihm eher recht als schlecht gelingt, den Menschen diese Möglichkeiten, Si-cherheiten und Chancen zuzusagen und einzuräumen, werden Gewaltmonopol und Gewalt-verbote im Gleichgewicht sein. Für den Rest können die Menschen, alleine oder gemeinsam, selber sorgen.

Im Bereich der Informationssicherheit ist es vor diesem Hintergrund keine menschenrechts-freundliche Option, den Staat aus seiner Pflicht zu entlassen, die schützenden Garantien zu schaffen, die ich gerade eben unter allgemeinen Hinsichten entwickelt habe. Information ist, wie gezeigt, ein Essentiale unserer Gesellschaft, mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen. Dann aber ist es eine zwingende Folgerung, die Umhegung gerade auch des informationellen Lebens, das Äußerliche auch der informationellen Entwicklung von niemandem anderen als vom Staat zu erwarten und einzufordern. Er ist auch heute, so weit das Auge reicht, die einzige Instanz, die eine gleichmäßige, gerechte und stabile Ordnung versprechen darf.

Das gilt für alle Einrichtungen der Informationssicherheit, die weder der einzelne noch eine nicht-staatlich verfasste Institution oder Gruppe von Menschen hinreichend tragen und stützen kann, für alle Einrichtungen also, die ein Fundament und ein Gerüst brauchen, ° das zum Schutz von Essentialien des menschlichen Lebens aufgebaut ist, ° nicht von heute auf morgen einfach abgebaut werden darf und ° auf das die Menschen einen Anspruch haben, den sie notfalls vor den staatlichen Gerichten durchsetzen können.

Beispiele für diese informationellen Essentialien gibt es mittlerweile zuhauf. Das vornehmste ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz aus dem Jahre 1983; diese Entscheidung darf bei uns als der Beginn staatlicher Umhegung der informatio-nellen Selbstbestimmung gelten. Sie hat nämlich, mit der Erhebung dieses Rechts zu einem Grundrecht, einen Schutzwall gegen spontane und beiläufige Eingriffe errichtet, und sie hat zweierlei staatliche Vorkehrungen als Garanten der Informationsfreiheit zur Folge gehabt: die eigentlichen Datenschutzgesetze des Bundes und der Länder sowie bereichsspezifische Regulierungen etwa für die Krankenhäuser, die Schulen oder die Polizei einerseits und die Einrichtungen von Behörden des Datenschutzes andererseits. Beides – Normativierung durch Gesetze und Institutionalisierung durch Datenschutzbeauftragte – wäre ohne staatliche Inter-vention gestern wie heute undenkbar, und beides ist notwendige Entstehungs- und Überlebensbedingung für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.

Überhaupt sind die Datenschutzgesetze in ihrem klassischen Zuschnitt, soweit sie die private Datenverarbeitung noch aussparen, sinnfällige Belege für das, was im Bereich der Informa-tionssicherheit Staatsaufgabe ist. Staatsanwaltschaft, Geheimdienste, Gesundheit, Soziales, Telekommunikation, Wissenschaft oder die gesetzliche Regulierung des Umweltschutzes – es steht außer Diskussion, dass hier der Staat zu regulieren und auch für Informationssicherheit zu sorgen hat. Wie er das tut, ob er Private bei der Erfüllung dieser Aufgaben heranzieht und ihnen dabei etwa Teilbereiche der Sicherungspflichten überträgt, ist freilich grundsätzlich seine Sache. Das kann bei der Informationstechnologie nicht anders sein als auch sonst in der modernen Staatsverwaltung.

Ich kann nicht sehen, dass die Informationssicherheit durch staatliche Gewährleistung ein auslaufendes Modell sei. Auch wenn Sicherheitsaufgaben in immer größerer Zahl weiterhin aus den hölzernen Handschuhen des Staates in die flinken Händen von Privaten wandern sollten (niemand kennt die Zukunft!), so wird doch dieser Abfluss durch andersartige Zuflüsse mehr als ausgeglichen: Schon dass die ursprünglichen Prognosen der siebziger und achtziger Jahre, die künftige Datenverarbeitung werde sich in Großrechnern konzentrieren, durch die vielen kleinen Hexenmeister der Informationstechnologie widerlegt worden sind, hat den Staat in seinen Sicherungsaufgaben keineswegs entlastet, sondern diese Aufgaben nur komplexer und komplizierter gemacht. Auch die verlässliche Überwachung der privaten Datenverarbeitung – die eine Aufgabe der Gegenwart und der unmittelbaren Zukunft ist – ist (mir) in ausschließlich privater Hand nicht vorstellbar. Und endlich ist auch der natürliche Zwilling des Datenschutzes, das moderne Recht auf Informationsfreiheit (Freedom of Information) nur einzurichten mit der Hilfe eines modernen und einsichtigen Staates.

Gerade in Zeiten der Privatisierung und Globalisierung brauchen wir den Staat, auch und wiederum gerade bei der Sicherung der Informationsverarbeitung: als Haltepunkt und Garanten für die Bewahrung des "Öffentlichen" in unserer Gesellschaft, nämlich für die auf Dauer gestellte, verlässliche und notfalls einklagbare Sicherung der essentiellen bürger-lichen Interessen. Informationssicherheit braucht eine langfristig angelegte und breit diskutierte Politik; deren Voraussetzungen kann ich außerhalb des Staates nicht erkennen.

Natürlich gibt es, wie immer im Leben, Abgrenzungsprobleme. Die aber erreichen, wie fast immer, nicht das Niveau des Regulierungsproblems, und so ist es auch hier. Wer soll beispielsweise zuständig sein, der Staat oder andere, für die Analyse und Beseiti-gung von Sicherheitslücken bei IT-Produkten, für die Erstellung "elekronischer Adressbücher" im Bereich der E-Mails oder den Schutz von Kundendaten bei Payback Cards? Diese Abgrenzungen lassen sich einsichtig, wenn auch nicht mit mathematischer Schärfe, treffen, nämlich an der Linie der beiden folgenden Fragen:

2. Sicherheit gegenüber dem Staat

Nach dem Szenario der Risikogesellschaft und der aus ihr wachsenden Kontrollbedürfnisse, wie es hier gezeichnet worden ist, wäre die Frage nach der Rolle des Staates im Bereich der Informationssicherheit unvollständig erfasst, würde nur, wie gerade geschehen, über Sicherheit durch den Staat nachgedacht. Mit gleicher Dringlichkeit ist auch die Sicherheit gegenüber dem Staat ein Thema der Informationssicherheit.

Im Gegenüber von Sicherheit durch den Staat und Sicherheit gegenüber dem Staat kommt die Ambivalenz auch semantisch zum Ausdruck, die in der Figur des nährenden und bedroh-lichen Leviathan Kontur gewonnen hat und die auch für diesen Vortrag so etwas wie ein roter Faden gewesen ist. Der Staat, so das Bild, ist nicht nur Partner in der Abwehr von Risiken und Verletzungen, er ist nicht nur Baumeister und Helfer bei der Konstruktion von Schutz-wällen, welche die Sicherheit der Informationsverarbeitung gewährleisten; er ist bei dieser Verarbeitung auch Spion und Lauscher an der Wand, und er ist es gegen die Interessen derer, für deren Kommunikation er sich interessiert.

Ich würde freilich eine nicht ganz flache Wette halten für die Annahme, dass die Veranstalter dieses Sicherheitskongresses auf ein solches Verständnis von "Sicherheit der Informations-verarbeitung" keinen großen Wert legen. Ihnen geht es um die Herstellung von Informations-sicherheit durch den Staat, wie sie gerade besprochen worden ist, und ich bin natürlich weit davon entfernt, Sie mit einem Gedanken zu behelligen, der Sie eigentlich gar nicht interessiert, weil Ihre professionellen Fragestellungen ganz anders ausgerichtet sind. Ihrer Profession geht es, an einem Beispiel, eher darum, die Videobeobachtung auf öffentlichen Plätzen sicherzustellen, als darum, vor dieser Beobachtung sicher zu sein; dennoch werden Sie mir sicherlich nicht bestreiten, dass Informationssicherheit nicht nur ein Gegenstand der professionellen Sicherheitstechnologie, sondern auch ein Thema des Rechtsstaats ist.

So will ich einen Mittelweg zwischen Wahrheitsliebe und Höflichkeit suchen und eine einzige Überlegung zur Sicherheit gegenüber dem Staat ausführen; sie betrifft den Charakter des modernen Informationsrechts und berührt wiederum die Rolle des Staates heute:

Es ist ein Fehler zu meinen, der moderne Staat mit seinen Tendenzen der Deregulierung, Privatisierung, Ökonomisierung und des Wettbewerbs habe sein Gebiss verloren. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass dieser Staat sowohl in seinen Leitbildern als auch in seinen Instrumenten "ziviler" geworden ist, dass die Kategorien von Zwang und Unterwerfung, von Befehl und Gehorsam schrittweise ergänzt – nicht ersetzt! – werden durch Künste der Lenkung und Überredung, die am Ende nicht auf die Knochen zielen, sondern auf Herz und Hirn.

Dies aber ändert nichts daran, dass dieser moderne Staat in seiner Überwachungspraxis nicht nachgelassen hat – im Gegenteil: Die wachsenden Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung sind ein treibender politischer Faktor, sie setzen sich machtvoll durch, und es ist gerade die Informationstechnologie, die diesen Bedürfnissen und ihrer staatlichen Bedienung hilfreich entgegenkommt. Es sind die neuen Mittel der Informationsverarbeitung, die unser Strafverfahren umgestalten, und es ist der moderne Staat, der in dieser Umgestaltung die Erfüllung seiner Schutzpflicht sieht und nicht etwa einen übermäßigen Eingriff in ein gewachsenes Recht oder in den Freiheitsraum seiner Bürger. Das ist kein soft law, mit dem es die Informationsverarbeitung hier zu tun hat; es ist das, was es immer war: Zwangsrecht. Und deshalb ist der Aspekt der Sicherheit gegenüber dem Staat ein integraler Bestandteil eines Sicherheitskonzepts in der Informationsverarbeitung.

3. Sicherheit jenseits des Staates

"Lawrence Lessig, Guru des Internet-Codes aus Harvard, fürchtet eine Entwicklung des Internet zu unerträglicher Kontrolldichte durch eine Koalition ökonomischer und politischer Interessen. Während das Internet in seinen anarchischen Anfängen auf den Prinzipien der Inklusion aller, der Anonymität, Kontrollfreiheit und Heterarchie aufgebaut war, verstärken sich heute die politökonomisch motivierten Tendenzen zur Herausbildung von sogenannten Intranets, also geschlossener Netze, die auf Exklusion, Kontrolle, Hierarchie und strikter Zielorientierung beruhen." Wenn diese Entwicklung von Gunther Teubner richtig beschrieben ist, und ich habe daran keinen Zweifel, so muss, wer über "Informationssicherheit als Staatsaufgabe?" nachdenkt, sich und seinen Zuhörern nicht nur "Information" und "Sicherheit", sondern auch "Staatsaufgabe" als offenes Problem vorlegen.

Die Analyse des Wissenschaftlers Teubner wird vom Manifest des gewählten Europa-Direktors von Icann, Müller-Maguhn, ergänzt. Der will "den öffentlichen Raum frei von kommerziellen Spielregeln halten, den freien Informationsfluss hüten und den Bits ihre Freiräume geben. Wir wollen lauter Dachgärtlein," schwärmt er, "wo sie sprießen, gedeihen und sich vermehren können". Auf seinem Weg zur "Geschenkkultur", zu De-zentralität und Kontrollfreiheit bleibt das Urheberrecht auf der Strecke, und die Juristen werden kräftig abgewatscht. Teubner, ein Jurist, schwenkt seine Plakate weniger forsch, steuert aber immerhin eine "Verrechtlichung ohne Staat" an – also eine Rechtsbildung in der Hand nicht-staatlicher privater Organisationen und transnationaler Regimes.

Hier ist weder Raum noch Zeit, diesen Entwürfen gerecht zu werden. Sie mögen - und sie tun es wohl auch – kräftig übertreiben und zu weit ausgreifen. Eines aber mahnen sie mit Recht an: den Traum einer kontrollfreien, staatsfernen Kommunikation. Sie realisieren, dass dieser Traum ausgeträumt ist, und sie ziehen daraus unterschiedliche Konsequenzen. Ich will diesen Traum hier nicht noch einmal träumen, sondern an ihn nur erinnern und gegenüber den treffenden, aber auch farblosen und entmutigenden Analysen der realen Zustände festhalten, dass Träume für die Entwicklung von Informationstechnologien nicht der schwächste Treibsatz gewesen sind.

Nicht als Ersatz solcher Träume, wohl aber als ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln, will ich am Ende noch an ein juridisches Prinzip erinnern, das die Staatsferne geradezu im Programm hat. Es ist der Grundsatz der Subsidiarität.

Der ist aus seinem dogmengeschichtlichen Nest der katholischen Soziallehre längst flügge geworden und überbringt – in dem Zuschnitt, wie er für die Informationssicherheit als Staatsaufgabe passt – diese Botschaft: Was die kleinen, näher am Menschen lozierten, Einheiten genauso gut oder besser machen können, das soll der Staat ihnen nicht entziehen. Die Verwirklichung dieses Prinzips setzt zweierlei voraus: Aufmerksamkeit und Phantasie. Aufmerksamkeit gegenüber den technischen Entwicklungen und dem sozialen Wandel, weil morgen eine Problemlage entstehen kann, deren Lösungsbedingungen sich gegenüber den heutigen vollständig gewandelt haben. Phantasie, weil die Übersetzung von Strukturen der Problemlösung vom Staat auf die Handlungsbedingungen kleinerer Einheiten gewaltige analytische Leistungen erfordern kann. Kurz: Subsidiarität verwirklicht sich nicht von selbst, sie verlangt Aufwand.

Im Bereich der Informationssicherheit freilich bietet sie sich dringend an, und ich behaupte, dass sie auf diesem Felde, über das derzeit Erreichte hinaus, noch fröhliche Urständ feiern wird. Es geht um die Herstellung einer Informationssicherheit "von unten", es geht um De-zentralität, um die Ersetzung von deduktiven Kontrollen durch induktive Entwicklungen und vor allem um die Förderung der Möglichkeiten autonomen Handelns der Benutzer dieser Technologien. dass Sicherheitsprobleme sich zu einem Gutteil nicht durch Sicherheitsver-waltung, sondern durch technische Vorkehrungen selber lösen lassen, ist ein Beispiel. dass die Kontrolle sowohl krimineller als auch sonst unerwünschter Angebote im Internet sich nicht allein durch exekutive und gesetzliche Vorkehrungen durchführen lässt, sondern darauf setzen muss, dass die Menschen kundig und bereit sind, für ihre eigenen informationellen Interessen zu sorgen, ist ein anderes. Beide werben für ein Sicherheits-denken, das nicht schon im ersten Zugriff auf den Staat setzt, sondern auslotet, ob ein konkretes Problem näher an den betroffenen Menschen besser aufgehoben ist.

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