Systeme und ihr Umfeld

Voice over IP

Konvergenz von Sprache und Daten

Von Gerhard Vaubel, Konstanz

Datenkommunikation ist heute mindestens ebenso wichtig wie die Möglichkeit zu telefonieren. Meist arbeiten aus "historischen" Gründen Sprach- und Datendienste noch getrennt voneinander. Dabei könnten eigentlich beide Kommunikationsformen über dieselben Protokolle ablaufen, mit deutlich niedrigeren Kosten und zusätzlichen Möglichkeiten.

Bisher waren die Übertragungsnetze für Daten und Sprache meist unabhängig voneinander – zumindest "oberhalb" der Leitungen. Jede Kommunikationsform hatte ihre eigene Infrastruktur und ihre eigenen Standards, Normen und Protokolle. Heutige Datennetzinfrastrukturen könnten aber, sowohl von der Bandbreite als auch von den typischen Verzögerungszeiten her, auch Sprache gut übermitteln. Damit ergibt sich fast zwangsläufig die Frage, warum man überhaupt zwei getrennte Infrastrukturen – mit jeweils eigenen Betriebs-, Betreuungs- und Investitionskosten – betreiben sollte. Dies führt zur Sprach/Daten-Konvergenz. Vorrangiges Ziel ist dabei Kosten zu senken. Aber die Sprach/Daten-Integration schafft durch erweiterte Dienste auch zusätzlichen Nutzen, um Arbeitsabläufe zu optimieren.

Welche Anforderungen muss eine Übertragungs-Infrastruktur erfüllen, damit sie sowohl Daten als auch Sprache, zumindest in der gewohnten Qualität, übertragen kann? Sprachdigitalisierung und mögliche Bandbreite stellen bereits seit Jahren kein Problem mehr dar. Anders als bei der Datenkommunikation sind bei der Sprachübermittlung jedoch einige Randbedingungen zu beachten, die mit der geforderten Sprachverständlichkeit zusammenhängen. Zu einem sind ausreichende (tatsächliche) Übertragungsbandbreite und Sprachdynamik erforderlich.

Darüber hinaus ist zu beachten, dass ein menschlicher Zuhörer sehr empfindlich auf zeitliche Verzögerungen von Sprache reagiert (Delay). Sprachdaten sollten nur maximal um einige Zehntelsekunden verzögert übertragen werden, wie aus Überseetelefonaten via Satellit bekannt ist. Noch kritischer sind relative Verzögerungen von Sprachpaketen zueinander, auch als Jitter bezeichnet. Um erhebliche Hörprobleme beim Empfänger zu vermeiden, darf dieser Jitter nur wenige Hundertstelsekunden betragen. Bei permanten exklusiven Verbindungen ist dies normalerweise gegeben.

In der heutigen Datenkommunikation mit ihren normalerweise nicht permanenten, sondern konkurrierenden Verbindungen sind jedoch die kritischen Bedingungen hinsichtlich der Verzögerungszeiten für eine verständliche Sprachübertragung nicht ohne zusätzliche konzeptionelle und technische Maßnahmen einzuhalten. Datenübertragungsinfrastrukturen waren bisher auf die Anforderungen für Sprachübertragung nicht ausgelegt. Verzögerungszeiten, sowohl absolut (Delay) als auch relativ (Jitter), von über 100 ms stellen für Datenübertragungen kein Problem dar (außer bei Echtzeitanwendungen). Hier liegt die größte zu überwindende Hürde für die Konvergenz von Sprache und Daten.

Inzwischen gibt es allerdings diverse konzeptionelle und technische Lösungen. Im heute üblichen IP-Umfeld beschreiben die Stichworte Quality-of-Service (QoS), Class-of-Service (CoS) und priorisierter Datenverkehr den Versuch, definierte Randbedingungen zu erzielen. Hier wird das Gesamtthema Sprach/Daten-Konvergenz auch häufig mit dem Begriff Voice-over-IP (VoIP) gleichgesetzt, auch wenn es vor allem im WAN-Bereich alternative Techniken wie Voice-over-FrameRelay (VoFR), Voice-over-ATM und weitere "Voice-overs" gibt.

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Sprach/Daten-Konvergenz: Nicht nur dieselben Telekommunikationsleitungen, sondern auch dieselben Vermittlungsprotokolle sowohl für Sprache als auch für Daten zu nutzen, spart Infrastruktur, Betriebs- und Betreuungskosten.

Voice over IP

IP ist ein verbindungsloses OSI-Layer3-Protokoll (Netzwerkschicht) mit Routingfunktionalität. Jedes IP-Datenpaket enthält eine Absender- und Ziel-Adresse, und zwar so, dass jede zwischengeschaltete Vermittlungsstation (Router) für jedes einzelne Datenpaket die Weiterleitung in Richtung Ziel eigenständig ermitteln und durchführen kann. Bei IP-Datenübertragungen werden deshalb, anders als in der klassischen Sprachkommunikation, keine permanten oder exklusiven Verbindungen zwischen Quelle und Ziel aufgebaut (Paketvermittlung statt Leitungsvermittlung, daher die Bezeichnung "verbindungslos").

Jedes Datenpaket kann prinzipiell einen völlig eigenen Weg durch das Netz nehmen. Einerseits bewirkt dies eine hohe Zuverlässigkeit, zum Beispiel durch automatisches Umrouten bei Leitungsausfällen, anderseits sind, zumindest am Zielort, zusätzliche Überwachungs- und gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen erforderlich, zum Beispiel um ein gegenseitiges Überholen von Datenpaketen abzufangen.

Seitdem es für Voice over IP einen Standard gibt (H.323), ist es grundsätzlich möglich, Sprache über IP-Netze auch zwischen Endgeräten unterschiedlicher Hersteller auszutauschen. Da die verbindungslosen IP-Übertragungswege weder permanent noch exklusiv sind, können die für Sprache wichtigen Delay- und Jitter-Randbedingungen in einem normalen IP-Netz jedoch nicht ohne zusätzliche Maßnahmen erfüllt werden.

Ohne solche Maßnahmen ist Sprachverständlichkeit mittels VoIP nur im Idealfall (zufällig) erreichbar, zum Beispiel wenn gerade wenig (Daten)-Verkehr auf den Leitungen läuft und alle Sprach-Datenpakete (zufällig) den gleichen Weg nehmen. Ein einziger großer Dateitransfer kann aber bereits zur vorübergehenden Störung der Sprachübertragung führen – sicherlich kein Szenario unter dem man bereit ist, Sprach/Daten-Konvergenz im alltäglichen produktiven Umfeld zu implementieren.

Zuverlässigkeit

Um auch bei VoIP die für gute Sprachverständlichkeit erforderlichen Delay- und Jitter-Obergrenzen einzuhalten, sind verschiedene Verfahren möglich. Sie sollen "Quality-of-Service"-Anforderungen auf der gesamten Übertragungsstrecke zwischen Absender und Ziel sicherstellen. Die gängigen Verfahren zur QoS-Gewährleistung für VoIP beruhen heutzutage vor allem darauf, den Sprachpaketen höchste Priorität bei der Datenübertragung einzuräumen. Sprachpakete werden dann bei der in einem IP-Paketnetz herrschenden konkurrierenden Vermittlung bevorzugt bearbeitet, sodass zeitlich unkritischer Datenverkehr sie nicht ausbremst.

Zur Priorisierung von IP-Paketen verwendet man heutzutage ein schon immer vorhandenes aber bislang nicht genutztes Feld in den Packet Headern. Speziell bei IP heißen solche Prioritäts-Bits auch Class of Service (CoS). IP-CoS ermöglicht maximal acht Prioritätsstufen. CoS sollte man nicht mit QoS, das umfassendere Qualitätsanforderungen beschreibt, verwechseln oder gar gleichsetzen. CoS ist nur ein Mittel, um QoS-Anforderungen umzusetzen.

Die Priorisierung per CoS kann grundsätzlich auf alle Datenpakete angewandt werden, zum Beispiel könnte man Dialoganwendungen gegenüber Filetransfers bevorzugen. Für Netz-Designer und -Administratoren bedeutet dies, dass sie für den Netzverkehr eine Traffic Policy erstellen, einrichten und überwachen müssen. Zu beachten ist, dass heutige Switches/Router möglicherweise nicht alle acht CoS-Prioritätsstufen implementiert haben. Das Netzdesign und die Nutzungsmöglichkeiten hängen daher unter Umständen stark von den gewählten beziehungsweise vorhandenen Netzkomponenten ab.

Neben den CoS-Bits gibt es noch weitere, oft herstellerspezifische Verfahren zur QoS-Sicherstellung auch für Sprach-Services. Beispielsweise ist Cisco RSVP (Resource Reservation Protocol) ein Verfahren, mit dem Übertragungsressourcen, zum Beispiel die Bandbreite, von Ende zu Ende ausgehandelt und für die Übertragungsdauer reserviert werden können.

Unter Nutzung von CoS und gegebenenfalls ergänzender QoS-Verfahren, ist VoIP heutzutage im Prinzip ohne Einschränkungen bei der Sprachverständlichkeit implementierbar. Erforderlich ist hierfür jedoch ein entsprechendes Design des Netzwerkes sowohl im LAN- als auch im WAN-Bereich inklusive einer bedarfsgerechten Komponentenauswahl. Im LAN sind die meisten derzeit verfügbaren (höherwertigen) Komponenten VoIP-fähig und unterstützen CoS; das gilt insbesondere für fast alle in den letzten 2–3 Jahren neu auf den Markt gekommenen Geräte.

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Die Verwendung bestehender Datenkopplung zwischen mehreren Standorten ermöglicht den Aufbau einer unternehmensweiten VoIP-Infrastruktur, eventuell unter Nutzung vorhandener Datenstandleitungen, VPNs oder RAS-Verbindungen für Heimarbeitsplätze.

Somit ist zwar jedes IP-Netz grundsätzlich VoIP-fähig, aber lange nicht in jedem zwischengeschalteten WAN (etwa dem Internet) ist automatisch auch die Sprachverständlichkeit sichergestellt. Der Begriff "VoIP-fähig" sollte man letztlich nur auf Netze anwenden, die die entsprechenden Sprach-QoS bereitstellen, und zwar End-to-End, "von A (Absender) bis Z (Ziel)".

VoIP-Vorteile

Technische Vorteile von VoIP sind die Nutzung der bestehenden LAN-Verkabelung (Cat5) beziehungsweise eine einheitliche Verkabelung bei Neuanlagen. Auch aufwändige Vermittlungstechnik (TK-Anlage) entfällt.

Zudem gibt es deutliche "Business"-Vorteile: Der größte Teil der in einem Konzern geführten Gespräche sind interne Gespräche. Bei Unternehmen mit verteilten, eventuell auch internationalen Standorten bedeutet das entsprechend hohe Telefongebühren. Durch Nutzung des Datennetzes entfallen diese Kosten. Bei externen Gesprächen können aber auch aus Auslands- oder Ferngesprächen zu anderen Rufzielen nationale oder Ortsgespräche werden, wenn das Telefonat erst am nächstgelegenen Standort zum Gesprächspartner das interne (IP-)Netz verlässt. Auch mit Partnerfirmen, die bereits ins Extranet eingebunden sind, lassen sich diese Vorteile nutzen.

Bei der Nutzung von CTI-Anwendungen (Computer/Telefon-Integration) wie User Helpdesks, Call-Center-Lösungen oder Customer-Relationship-Management-Systemen (CRM) sind die Vorteile einer einheitlichen Kommunikationsinfrastruktur offensichtlich. Zugehörige Computerdaten-Informationen werden parallel zum Telefongespräch automatisch auf dem Bildschirm zur Verfügung gestellt.

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Besonderen Nutzen bietet VoIP im Call Center: Durch einen Klick auf den "Call Button" im Web können entsprechend ausgestattete Kunden über die bestehende Internetverbindung mit der Kundenbetreuung oder Auftragsannahme auch telefonieren.

Zudem ergeben sich im Allgemeinen bei VoIP geringere Kosten durch den vereinheitlichten Support sowie einen geringeren Wartungsaufwand: Der Aufwand für Installation und Betriebsführung des früheren Sprachnetzes entfällt. Spezielles Know-how für die Administration herkömmlicher TK-Anlagen ist nicht mehr erforderlich. Eventuell übernimmt der eigene oder externe Dienstleister für die IT-Infrastruktur auch die Aufgaben der VoIP-Administration. Umzüge von Mitarbeitern im Unternehmen gestalten sich zudem erheblich einfacher als mit leitungsgebundener Vermittlungstechnik: Das IP-Telefon wird am neuen Arbeitsplatz in die LAN-Steckdose eingestöpselt, unmittelbar erkannt und ist sofort betriebsbereit.

Fazit

Der deutsche Markt für TK-Anlagen und Telefone beläuft sich auf mehr als vier Milliarden Mark und wird darum für VoIP-Produkte zu den lukrativsten gezählt. Hinzu kommen Messaging- und Call-Center-Anwendungen als Highend-Lösungen. Basierend auf IP sind inzwischen vielfältige Lösungen am Markt verfügbar und bei den Unternehmen im Einsatz, zum Beispiel

Die wesentliche Frage für den eigenen Einsatz ist, ob die vorhandenen Netze so vorbereitet sind, dass entsprechenden Lösungen nichts im Wege steht. Ist dies nicht der Fall, sind zusätzliche Investitionen unvermeidlich – eventuell sind diese allerdings ohnehin angesagt, wenn es sich um ältere Netzwerktechnik handelt.

Gerhard Vaubel ist Leiter Systemengineering bei der ATM ComputerNetzwerke GmbH, Konstanz ([externer Link] www.atm-computer.de).

Produkte

Auf dem deutschen und zentraleuropäischen Markt für Voice-over-IP sind die Produkte folgender Hersteller relevant:

Cisco [externer Link] www.cisco.de
Siemens [externer Link] www.siemens.de
3Com [externer Link] www.3com.com
Nortel Networks [externer Link] www.nortel.de
Lucent/Avaya [externer Link] www.lucent.de
Alcatel [externer Link] www.alcatel.de
Tenovis (Bosch) [externer Link] www.tenovis.de

© SecuMedia-Verlags-GmbH, D-55205 Ingelheim,
KES 5/2001, Seite 64