Systeme und ihr Umfeld

Mobiltelefon vs. Smartcard

Ist das Handy die bessere Chipkarte?

Von Hans-Diedrich Kreft, Dassendorf

Gäbe es ein Musical, in dem Handy und Smartcard im Duett aufträten, so würde das Mobiltelefon womöglich singen "Alles, was Du kannst, das kann ich viel besser..." Muss das so sein? Und wie wird sich der Kartenmarkt entwickeln? Informationen über zukunftsträchtige Systeme aus vielleicht unerwarteten Quellen.

Vor unseren Augen spielt sich am Kartenmarkt ein gewaltiger Wandel ab, und fast sieht es so aus, als ob die Kartenexperten den Wandel nicht wahrnähmen. Aber nur fast – zum Beispiel erklärt "Bank und Markt" im November 2000 unter der Überschrift Chipkarte ... Kundenbindung mit Mobilfunk: "Anstatt die Kontodaten auf der SIM-Karte zu speichern, würden dann die Daten der Mobilfunkbetreiber auf dem Geldkarte-Chip untergebracht." Und im selben Monat ist in der Ausgabe der banknahen Fachzeitschrift "Karte" unter der schönen Überschrift Agonie der Geldkarte? nachzulesen, dass 1999 circa 50 Millionen ausgegebene Geldkarten nur 20,7 Millionen mal als Chipkarte genutzt wurden. Ich persönlich schätze, dass die Geldkarte die Kreditwirtschaft bisher weit über eine Milliarde Mark gekostet hat – Pardon!, das hat sie uns alle gekostet. Vor dem Hintergrund dieses Desasters sollten wir die folgenden Ausführungen sehen.

Wozu diese pessimistische Einleitung? Zumal von jemandem, der auf der Hannover Messe 1985 die erste kontaktfreie Telefonkarte gemeinsam mit der damaligen Bundespost vorgestellt hat, der 1993/94 dem Zentralen Kreditausschuss (ZKA) eine Geldkarte auf der Basis einer CombiCard vorschlug (heute sicher zur Freude der Verbraucher Dual-Interface-Karte genannt)... Nun: Wir als Chipkarten-Anhänger müssen mit ansehen, wie der Mobiltelefonmarkt zunehmend die Maßstäbe für den Kartenmarkt setzt – und das dürften dann Maßstäbe sein, die sich am Massenmarkt und den Endverbrauchern orientieren.

Oft heißt es, den Chipkarten mangele es an Anwendungen – eigentlich mangelt es ihnen aber an Funktionen. Dazu zunächst einige Begriffe, mit denen wir als Techniker den Kartenanwendern das Leben erleichtern können (oder erschweren, wenn wir sie nicht klären). Funktion und Applikation stehen in einem Zusammenhang. Jede Funktion hat eine physikalische Ursache, während Applikationen logische Ursachen haben; sie sind abhängig davon, was in die Karte als Anwendungsmöglichkeit einprogrammiert wurde. Ein Beispiel: Wenn eine Karte als physikalisches Merkmal über Kontakte (zum Beispiel Geldkarte, Telefonkarte, ...) verfügt, ist es sinnlos, sich nach (Multi-)Applikationen zu sehnen, die nur kontaktfrei wirklich erfolgreich sein können (zum Beispiel Zeiterfassung, Zutrittsberechtigung, Fahrscheine, ...). Vereinfacht ausgedrückt: Funktion ist Physik, Applikation ist Logik. Ein Fingerabdruck oder eine Spracherkennung ist Physik. Eine PIN ist Logik.

In der Sicherheitsebene heißt es: "Physikalisch versus logisch." So ist der Begriff Firewall, der physikalische (oder zumindest physische) Sicherheit suggeriert, doch nur eine logische (per Programm zu steuernde) und keine dingliche Barriere. Noch ein Beispiel: Solange der Nutzer einer Karte sich mit einer PIN gegenüber der Karte authentifizieren muss, und nicht etwa die Karte per Fingerabdruck ihren Nutzer identifiziert, ist die Sicherheit der Karte eine logische und keine physikalische.

Mehr Applikationen? Logisch!

Warum wimmelt es in den Fachzeitschriften nur so von Ankündigungen weiterer Applikationen von Smartcards? Nun, weil es leichter ist, die "Logik" einer Karte zu gestalten (zu programmieren) als eine neue Funktion auf die Karte zu bringen. Das ist sehr schön bei der Geldkarte zu sehen: Die Kontaktfreiheit (Transponder) würde den Zugang zu Verkehrsanwendungen beträchtlich erleichtern und zudem die Karte als Zutritts- und Zeiterfassungssystem, also als Betriebskarte, fördern. Doch irgendwie war und ist es wohl einfacher, wieder und wieder Geld in Werbekampagnen zu stecken, um den Verbraucher "aufzuklären" wie wunderbar doch die jetzige Karte ist.

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Abbildung 1: Funktion als Grundlage von Applikation

Fachleuten sollte klar sein: Die Anzahl der Applikationen einer Karte kann nur zunehmen, wenn man die Anzahl ihrer (physikalisch bedingten) Funktionen erhöht. Und genau hier liegt der Knackpunkt zwischen Karte und Mobiltelefon: Ein Handy verfügt über mehr Funktionen als eine Karte.

Per Batterie ist ein Handy in der Lage Applikationen zu unterstützen, die Reichweite erfordern, zum Beispiel aus dem Auto heraus ein Garagentor öffnen, Maut bezahlen oder bei einem Unfall Notsignale senden. Per Telefonnetz ist aber auch ein direkter Zugang zum Konto gegeben. Der Nutzer muss nicht erst zum Bankautomaten, um Geld abzuheben. Ach... wie wir doch mit der letzten Formulierung von den Wünschen der Banken geprägt sind! Wozu muss man Geld "abheben", es in das Telefon (oder eine Karte laden), wenn es doch – bei inzwischen preiswerten Telefonleitungsgebühren – genügte, einen Lastschriftabruf zu tätigen oder ein Bezahlsystem vergleichbar zu dem der Kreditkartenorganisation zu nutzen?! Da wird bei einem Mobiltelefon doch wohl niemand mehr mit dem Argument der Kleingeldbeträge kommen, für die eine Evidenzzentrale erforderlich sei?

Aber es geht ja noch weiter mit den Handyvorteilen: Ein Mobiltelefon wäre auch in der Lage, eine Spracherkennung seines Nutzers durchzuführen, was bei knapper Chipfläche sinnvoller ist als einen Fingerprintsensor auf einer Karte zu platzieren. Damit würde ein Handy seinen Nutzer erkennen, der PIN-Wirrwarr hätte eine Ende. Schließlich würde die Sicherheit entscheidend erhöht. Dass ein Handy Rechner, Display, Tastatur bietet, ist weiter von Vorteil, sind doch die Tasten für Freigaben bei Zahlungen oder Datenabgabe nutzbar. Natürlich wäre in der Anzeige dann sichtbar, was man bezahlt. Die Handyvorteile der Kommunikation sind von einer Karte schon gar nicht erfüllbar.

Patente Ideen

Weitere Handyanwendungen kündigen sich per Einsicht in Patentunterlagen an: Die Karte in einem Handy ließe sich zum Beispiel kontaktfrei durch das Gehäuse des Telefons nutzen und schon können wir uns all die Anwendungen erfüllen, die uns per kontaktfreier Karte in Zukunft zur Verfügung stehen (sollen), zum Beispiel Bezahlen beim Ein-/Aussteigen in einen Bus. Und die Infrarotschnittstelle zum PC ist auch nicht zu unterschätzen, vor allem, wenn sie zusätzlich genutzt werden kann, um die Entfernung zu einem Abfragesystem zu bestimmen: Damit gäbe dann das Mobiltelefon nur Daten seiner Karte (des SIM-Chips) frei, wenn sich das Kommunikationsterminal in der unmittelbaren Nähe befindet. Da kann ein Handy ruhig auf der Bar liegen – niemand kommt an die Karteninhalte, da die Infrarotschnittstelle den missbräuchlichen Abfrager als zu weit entfernt disqualifiziert.

Noch zwei Effekte sind zum Vorteil des Handys abzusehen: In der Kartenbranche bestehen seit Mitte 1999 erhebliche Engpässe bei der Chiplieferung. Das hat zwei Gründe: Die Chiphersteller sind häufig gleichzeitig Mobiltelefonlieferanten und ziehen die Eigenbelieferung ihrer Mobiltelefone vor. Und Handychips sind dank GSM-Standard einheitlicher herzustellen.

Die Chipengpässe sorgen dafür, dass zum Beispiel der Fingerabdruck als das Merkmal zur Erhöhung der Kartensicherheit nicht eingeführt werden kann. Ein Fingerprint-Chip benötigt eine große Chipfläche. Die knappen Chipflächenkapazitäten stehen somit dem Einsatz eines funktionalen Leistungsmerkmals bei Karten entgegen.

Zusätzlich werden Karteninkompatibilitäten (verschiedene Betriebssysteme, mehrere Karten für vergleichbare Problemlösungen) und unsinnige Anwendungen den Verbraucher zurückhaltend agieren lassen (zum Beispiel erst Geld am Automaten holen, dann bezahlen, das "Geld" aber nicht einmal sehen können). Gleiches gilt für die Einführung von unsteten oder halbgaren Standards im Firmenumfeld, die kaum Investitionssicherheit versprechen.

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Abbildung 2: Zusammenfassung der Argumente Mobiltelefon (Handy) kontra Karte

Schöne Aussichten?!

Wie geht es also weiter mit den Chipkarten? Um diese Frage zu beantworten, ziehe ich vier Quellen heran:

  1. Auf der CeBIT 2000 habe ich 23 Experten von der Deutschen Bank bis zu Fachverlagen, Erfindern, Geschäftsführern, Normfachleuten, Entwicklern und Telekomspezialisten die Frage gestellt: "Mit welchen Funktionen können 80 % der Anwendungen erfüllt werden?"
  2. Experten werden laufend interviewt. Viele Jahre lang hatte ich die Befragungen von Marktanalyseunternehmen schon im Vorzimmer abblocken lassen. Das hat sich geändert, seitdem ich erkannt habe, dass aus den Befragungen wichtige Rückschlüsse zu ziehen sind: So ist aus den Fragen meist ersichtlich, welche Mainplayer als Auftraggeber hinter den Aktionen stecken, an welche Anwendungen sie denken, welche Kartenfunktionen benötigt werden und mit welchen Kartenumsätzen in welchen Märkten zu rechnen ist. Zusätzlich erhält man häufig, sofern man geduldig bis zu eine Stunde am Telefon geantwortet hat, später die Analyseergebnisse frei Haus.
  3. Als Erfinder war ich gezwungen, in den letzten Jahren Tausende von Patenten zu lesen. Da Patente ihrer Realisierung vorauseilen, ist aus ihnen zu ersehen, was insbesondere die Großkonzerne entwickeln und was in den nächsten Jahren an Innovation auf uns zukommt.
  4. Aus den technischen Dokumentationen der Chipindustrie ist ersichtlich, was zukünftig an Leistung per Chip zur Verfügung steht.

Die Antworten der Fachleute auf der CeBIT zeigten dabei eine erstaunliche Übereinstimmung mit der zweiten und dritten Informationsquelle. Die Ergebnisse lauten zusammengefasst, dass sich 80 % der absehbaren Anwendungen mit vier physikalischen Kartenfunktionen lösen lassen:

Folgerung: Nur eine Karte, die alle vier vorstehenden Funktionen bietet (Stichwort: QuattroCard), hat eine Chance mit dem Mobiltelefon mitzuhalten. Betrachtet man die wichtigsten technischen Daten, die für die zukünftige Entwicklung relevant sind, in den Dokumentationen der Chiphersteller (Siemens, Philips, Motorola, ST Thomson, HITACHI, IBM, ...), so zeigen sich folgende Leistungsmerkmale:

Diese technischen Daten lassen es zu, die obigen Anforderungen der QuattroCard zu erfüllen. Es kann sich zum Beispiel neben einem Betriebssystem auch ein Java-Interpreter auf der Karte befinden. Bei den großen EEPROMs könnte man dann per Java umfangreiche Anwendungen nachladen, womit sich verschiedenste Marktinteressen auf demselben Chip niederschlagen können – Download ist das Schlagwort. Waren bei den klassischen Karten die Co-Branding-Konzepte gefragt (zwei Firmenlogos auf der Karte boten addierbaren Klientelzahlen Vorteile), so ist durch die vorstehenden, technischen Leistungsmerkmale die Tür aufgestoßen zum "Parallel-Operating".

Es ist vorstellbar, dass ein Mainplayergigant oder eine Kombination aus Telekomunternehmen und "Internetter" dem Kartenmarkt mit dem Slogan "die QuattroCard Karte für das sichere Internet" oder "per QuattroCard zum vollkommenen Handy" neue Perspektiven eröffnen. Da sich die Interessen der Telekoms und Internetfirmen unterstützen, stehen die Banken etwas im Abseits. Chancen zum Mithalten hätten die Kreditkartenorganisationen.

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Abbildung 3: Anwendungen, Mainplayer, Stückzahlen – Aussichten auf den künftigen Kartenmarkt
Legende: EU: European Union, US: United States, EE: East Europe, AS: Asia, SA: South America, AF: Africa

Die Schätzungen zu den künftigen Kartenstückzahlen schwanken je nach Mainplayer, dürften aber unter Einbeziehung von Prognosen der führenden internationalen Kartenhersteller (Gemplus, Schlumberger) im Jahre 2005 bei etwa 300 Millionen Karten jährlich sowohl in den USA als auch in der EU liegen (vgl. Abb. 3) – wohlbemerkt ohne GSM-Karten.

Abschließend lässt sich zusammenfassen: Gelingt es nicht, eine Quattrokarte mit den genannten vier Grundfunktionen schnell in den Markt zu bringen, sind Probleme für die Kartenbranche absehbar. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Telekombranche dann gewohnt flott mit dem Spruch daherkommt: "Das Handy ist die bessere SmartCard."

Dipl.-Ing. Hans-Diedrich Kreft ist Vorstnad der Vision Patents AG.

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KES 1/2001, Seite 84